Paul Bosse und die Paul-Gerhardt-Stiftung

Der Anstellungsvertrag von Paul Bosse aus dem Jahr 1922


Der Anstellungsvertrag von 1922 ist durch das Buch 'Heilen und Unheil' (S. 56) zunehmend in den Fokus des Interesses geraten. Der Autor von 'Heilen und Unheil', Helmut Bräutigam, spricht explizit vom Anstellungsvertrag von 1922, den er genauso wie die geschäftsführenden Pfarrer des Stifts von 1928–33 heute noch interpretiert. 1933 waren die beiden Unterzeichner des Vertrags von 1922 auf Seite der PGStung schon lange nicht mehr im Amt.

Wörtlich heißt es in diesem Vertragstext: Der Vertrag läuft vom 1. Januar 1922 bis zum 31. Dezember 1928. Wird er nicht ein Jahr zuvor gekündigt, so läuft er immer auf 6 Jahre weiter. (Dok 1)

Das ist ein Anstellungsvertrag ohne Befristung mit wiederkehrender Kündigungsmöglichkeit (ein befristeter Vertrag läuft ohne aktives Handeln (d.h. Kündigung) aus. Im Gegensatz hierzu läuft Paul Bosses Vertrag ohne aktives Handeln auf unbegrenzte Zeit). Die Richtlinien über Chefarztverträge, die sich die PGStung unmittelbar nach der Kündigung im Jan. 1934 hatte zuschicken lassen, führen als Mustervertrag einen mit Paul Bosses Anstellungsvertrag vergleichbaren Vertrag auf (§ 5b), in dem das Krankenhaus auf die sich wiederholende ordentliche Kündigungmöglichkeit verzichtet und in dem nur die jederzeitige außerordentliche Kündigung durch die Klinik vorgesehen ist (sog. Kündigung aus wichtigem Grund, z.B. Konfessionswechsel, Schließen des Krankenhauses). Das war damals gängige Praxis. (Dok 5 und Richtlinien 03.1933)

Ein Blick in die Vertragshistorie schafft zusätzlich Klarheit. Paul Bosse ist seit 1907 am PGSt tätig. Der erste überlieferte Vertrag ist von 1914, auf den sich die folgenden von 1920 und 1922 beziehen; er wird auf drei Jahre geschlossen und danach eine(r) beiderseitig am 1. April und 1. Oktober jeden Jahres zulässige(n) halbjährige(n) Kündigungsfrist vereinbart. Diese 'Vorsichtsmaßnahme' ist wegen der prekären Lage des Krankenhauses geboten, so meinen es jedenfalls die beiden Parteien festhalten zu müssen.

Im Änderungsvertrag von Juli 1920 – Paul Bosse ist seit 1.10.1919 Nachfolger des Leitenden Arzts – heißt es: Der Vertrag läuft bis zum 30.VI.1926; wird er nicht ein Jahr zuvor gekündigt, so läuft er auf 6 Jahre weiter. Der Vertrag sieht sogar eine Verpflichtung der PGStung vor, dahin zu wirken, dass [ein evt.] Erwerber des Paul Gerhardt-Stifts die Verpflichtung des Ev. Kirchl. Hilfsvereins gegenüber Dr. Bosse an seiner Stelle übernimmt. Eine an sich in diesem Fall mögliche Kündigung (außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund) durch die PGStung will man durch diesen Passus in ihren Konsequenzen abmildern. In dem Vertrag wird aus der „beiderseitigen“ Kündigungsmöglichkeit (Vertrag 1914) „eine“ Kündigungsmöglichkeit. Die drei diesen Vertrag schließenden Nichtjuristen wollten damit das ordentliche Kündigungsrecht (alle 6 Jahre) des Stifts ausschließen: Falsa demonstratio non nocet. Der noch vorhandenen prekären Situation ist durch die jederzeit mögliche außerordentliche Kündigung Genüge getan.

Gänzlich anders ist die Lage zur Zeit des Anstellungsvertrages von Februar 1922. Das PGSt übernimmt 1921 die alleinige stationäre Gesundheitsversorgung für Stadt und Kreis. Das bisherige Städt. Krankenhaus wird geschlossen. Insofern besteht das Interesse der PGStung, den Chefarzt auch langfristig zu binden. Dies geschieht im Vertrag von 1922, 1½ Jahre nach dem letzten Vertrag: Er ist jetzt unbefristet und sieht alle 6 Jahre eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit nur von Paul Bosse vor (s.o.).
Auf Grund seiner im WK I erworbenen Schwerbeschädigung ist eine Kündigung durch die PGStung überhaupt nur mit Genehmigung der Hauptfürsorgestelle Merseburg möglich.

Es kommt der PGStung heutzutage darauf an, zwar zu sagen, die Kündigung erfolgte nur wegen der „jüdischen Versippung“, aber die Kündigung als solche war nach dem Anstellungsvertrag erlaubt.1) Der Stiftung ist es zumindest gleichgültig, das Ansehen Paul Bosses erneut zu beschädigen: Denn was ist das für ein Chefarzt, der alle 6 Jahre zittern muss, dass ihm gekündigt wird – so soll es Paul Bosse nach dem Willen der Stiftung ergehen. Ist es späte Rache für die Abhängigkeit der Geistlichkeit von ihrem Chefarzt oder verzeiht man ihm bis jetzt nicht, dass er mit seinem Rauswurf ihre Nähe zu den Nazis offenbart? 2)

1) Wie wenig realistisch Paul Bosse im Gegensatz zu Bräutigams Behauptung, der Anstellungvertrag ließe die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung durch die PGStung subjektiv für die Beteiligten zu (S. 62), diese als drohende Möglichkeit einschätzt und damit unterschätzt, ersieht man aus seinem Verhalten zwischen dem 20.12.1933 und 18.1.1934 (Bestätigung der Kündigung zum 31.12.1934 durch den PGSt-Vorstand). Für Paul Bosse zumindest gibt es dieses von Bräutigam postulierte Verständnis nicht, für die PGStung ist dies sehr zweifelhaft.
2) Die geschäftsführenden Pfarrer des Stifts hatten nach 1928 ein Interesse, den Anstellungsvertrag von Paul Bosse willkürlich anders zu interpretieren. Zu sehr stellte er ärztliche Interessen in den Vordergrund; zu gerne würden sie seine Macht einschränken, ohne ihn zu verlieren. Nach dem 30.1.1933 hatte die PGStung, indem sie gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten machte, auch die Macht, die „neue“ Interpretation des Chefarztvertrags Wirklichkeit werden zu lassen und kündigte zum 31.12.1934. Wie eine weitere Zusammenarbeit aussehen sollte, davon gibt der allerdings nie in Kraft getretene Vertrag vom 23.12.1933 beredt Auskunft (Dok 3). Der weitere Verlauf des Kündigungsgeschehens, nämlich der erzwungene Auflösungsvertrag und die Erklärung von Paul Bosse, in der er auf alle Ansprüche an das PGSt verzichtet, machen deutlich, dass sich die PGStung in ihrem Handeln von den ihr zugesandten Richtlinien (§ 6, Abs. 2 letzter Satz) leiten ließ.


(siehe auch die Seite Dokumente)

bearb. am 14.03.2018
URL:
www.paul-und-kaete-bosse.de/pkb-pgst/pkb_pgst_anstellungsvertrag_1922.html

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